Eingliederungshilfe nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG)

 
  • Die Eingliederungshilfe unterstützt Menschen mit Behinderungen dabei, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben. Sie richtet sich auch an Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, wenn diese zu wesentlichen Beeinträchtigungen der Teilhabe führen.
    Grundlage ist das Bundesteilhabegesetz (BTHG), das die Eingliederungshilfe seit 2020 umfassend reformiert hat.

    Rechtsgrundlage & Neuerungen durch das BTHG

    • Rechtsgrundlage: SGB IX, Teil 2.

    • Wichtige Neuerungen:

      • Trennung von Fachleistungen der Eingliederungshilfe und existenzsichernden Leistungen (z. B. Unterkunft, Lebensunterhalt).

      • Einführung des Teilhabebegriffs: nicht mehr die Defizite, sondern die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe stehen im Vordergrund.

      • Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts (Betroffene können stärker mitentscheiden, welche Leistungen sie in welcher Form erhalten).

      • Einführung von Teil- und Gesamtplanverfahren, die die individuelle Bedarfsermittlung regeln.

      • Möglichkeit flexiblerer Leistungsformen (z. B. Persönliches Budget).

    Voraussetzungen

    • Vorliegen einer wesentlichen Behinderung oder Bedrohung einer solchen Behinderung.

    • Dazu zählen auch psychische Erkrankungen, wenn sie zu erheblichen Einschränkungen in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben führen.

    • Anspruch haben sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche.

    Leistungsbereiche der Eingliederungshilfe

    Die Eingliederungshilfe umfasst verschiedene Lebensbereiche:

    1. Wohnen

      • besondere Wohnformen (früher: stationäre Einrichtungen)

      • ambulant betreutes Wohnen in eigener Wohnung

      • Assistenz im Alltag

    2. Arbeit & Beschäftigung

      • Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)

      • Integrationsbetriebe

      • andere Angebote zur beruflichen Rehabilitation

    3. Tagesstruktur & Freizeit

      • Tagesstätten für psychisch erkrankte Menschen

      • tagesstrukturierende Gruppenangebote

      • Freizeitassistenz

    4. Medizinische & soziale Rehabilitation

      • Förderung sozialer Kompetenzen

      • Unterstützung beim Umgang mit Krankheitssymptomen

      • Förderung von Alltagsfähigkeiten

    5. Assistenzleistungen

      • Unterstützung in Schule, Ausbildung, Studium

      • Begleitung bei Freizeitaktivitäten

      • Hilfen zur Mobilität

    Wirkungen / Nutzen für Betroffene

    • Förderung der Selbstständigkeit und Teilhabe

    • Stabilisierung im Alltag, mehr Sicherheit und Struktur

    • Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung zu leben und soziale Kontakte aufzubauen

    • Unterstützung bei Bildung, Arbeit und Freizeitgestaltung

    • bessere Chancen auf Integration in die Gesellschaft

    Auswirkungen auf Angehörige

    • Entlastung, da Betreuung und Unterstützung nicht allein in der Familie getragen werden muss

    • Sicherheit, dass Betroffene professionelle Hilfe erhalten

    • weniger Konflikte im Alltag, da Fachkräfte unterstützen

    • Angehörige können sich stärker auf die Beziehung konzentrieren

    Antragsverfahren

    • Zuständig: in der Regel das Sozialamt oder der überörtliche Sozialhilfeträger.

    • Ablauf:

      1. Antrag auf Eingliederungshilfe stellen (schriftlich).

      2. Teilhabeplanverfahren: Bedarfsermittlung im Gespräch mit Betroffenen, ggf. unter Einbeziehung von Ärzten, Therapeuten oder Angehörigen.

      3. Gesamtplan: Festlegung der Leistungen, Ziele und Verantwortlichkeiten.

    • Hinweise:

      • Mitwirkungspflicht: ärztliche Unterlagen und eigene Angaben sind wichtig.

      • Wunsch- und Wahlrecht: Betroffene haben ein Recht, über Art und Anbieter der Hilfe mitzuentscheiden.

      • Leistungen können auch als Persönliches Budget ausgezahlt werden.

    Finanzierung / Zuständigkeit

    • Träger ist das Sozialamt oder der überörtliche Sozialhilfeträger.

    • Eingliederungshilfe ist nachrangig, d. h. Einkommen und Vermögen werden berücksichtigt.

    • Es gibt Freibeträge, sodass ein Teil des Einkommens/Vermögens unangetastet bleibt.

    • Für Kinder: Prüfung beim Einkommen der Eltern.

    Fazit

    Die Eingliederungshilfe nach dem BTHG ist eine zentrale Leistung für Menschen mit Behinderungen, auch mit psychischen Erkrankungen. Sie ermöglicht Teilhabe in allen Lebensbereichen, stärkt Selbstbestimmung und entlastet Angehörige. Durch die Neuerungen des BTHG ist die Hilfe flexibler, individueller und stärker an den Wünschen der Betroffenen orientiert.

    Die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) informiert und unterstützt dich bei der Antragstellung.

  • 🗂️ Unterlagen für den Antrag auf Eingliederungshilfe (nach SGB IX, Teil 2)

    1. Antragsformular

    • Erhältlich beim örtlich zuständigen Sozialamt / Träger der Eingliederungshilfe

    • In vielen Landkreisen auch online verfügbar (z. B. auf der Website der Kommune)

    • Muss vom Betroffenen selbst oder einem gesetzlichen Vertreter unterschrieben werden

    💡 Tipp: In manchen Regionen heißt es „Antrag auf Leistungen zur sozialen Teilhabe“ oder „Antrag nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG)“ – ist aber dasselbe.

    2. Ärztliche / fachärztliche Unterlagen

    • Ärztliches Attest oder fachärztliche Stellungnahme, aus der Diagnose und Funktionsbeeinträchtigungen hervorgehen

    • Möglichst von einem Facharzt für Psychiatrie oder Psychotherapeut (wenn es noch nicht vorliegt, wird dies vom Kostenträger in auftrag gegeben)

    • Soll den Zusammenhang zwischen Erkrankung und Teilhabeeinschränkung klar darstellen

    • In Kliniken wird oft ein sozialpsychiatrischer Bericht oder eine sozialarbeiterische Stellungnahme beigefügt

    3. Sozialpädagogische Stellungnahme (Bedarfsbegründung)

    • Beschreibt die aktuelle Lebenssituation, Ressourcen, soziales Umfeld, und Hilfebedarf

    • Wird meist vom Sozialdienst oder einem externen Dienstleister (z. B. Betreuungsdienst) erstellt und vom Kostenträger eingeholt)

    • Grundlage für die Bedarfsermittlung nach ITP, BEI_NRW, B.E.Ni, o. ä. je nach Bundesland

    4. Nachweise über Einkommen und Vermögen

    • Aktuelle Einkommensnachweise (Lohn, Rente, Grundsicherung, ALG etc.)

    • Kontoauszüge (meist der letzten 3 Monate)

    • Mietvertrag bzw. Nachweis der Wohnsituation

    • Vermögensnachweise (z. B. Sparbücher, Lebensversicherungen)

    💬 Hinweis: Seit dem BTHG (ab 2020) gilt eine deutlich höhere Vermögensgrenze – aktuell ca. 61.000 € (Stand 2025) für Leistungsberechtigte.

    5. Schwerbehindertenausweis (falls vorhanden)

    • Oder alternativ: Bescheid über den Grad der Behinderung (GdB)

    6. Einverständniserklärungen zur Schweigepflichtentbindung

    • Damit das Sozialamt bei Ärzten, Klinik oder sozialen Diensten nachfragen darf

    • Ohne diese Einwilligung verzögert sich die Bearbeitung oft erheblich

    7. Ergänzende Unterlagen (optional, aber hilfreich)

    • Entlassungsberichte (Klinik, Reha)

    • Therapiepläne oder Behandlungsverläufe

    • Gutachten vom Amtsarzt, Rentenversicherung oder MDK

    • Empfehlungsschreiben von behandelnden Fachkräften oder Angehörigen

    📬 Wo wird der Antrag gestellt?

    Beim Träger der Eingliederungshilfe, in der Regel:

    • Sozialamt des Landkreises oder der kreisfreien Stadt

    • In Niedersachsen z. B. meist die Kommunen / Landkreise

    • In Hessen: die Eingliederungshilfeverbände

    Bearbeitungszeit

    • Je nach Träger zwischen 4 und 12 Wochen

    • Bei drohender Wohnungslosigkeit, Entlassung aus Klinik o. ä. → Eilantrag möglich

  • Teilhabedeizite sind die Vorraussetzungen, damit Eingliederungshilfe gewährt werden kann.

    Definition (nach SGB IX, §§ 90 ff.):
    Ein Teilhabedefizit liegt vor, wenn eine Person aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung wesentlich in ihrer Fähigkeit eingeschränkt ist, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben.

    Anders gesagt:
    👉 Nicht die Diagnose entscheidet über den Anspruch auf Eingliederungshilfe,
    sondern die konkreten Folgen der Erkrankung im Alltag und im sozialen Leben.

    🧩 Der Kern: „Beeinträchtigung der Teilhabe“

    Ein Teilhabedefizit zeigt sich, wenn jemand etwas nicht oder nur stark eingeschränkt tun kann, was für andere selbstverständlich ist.
    Das BTHG unterscheidet dafür verschiedene Lebensbereiche, angelehnt an die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) der WHO.

    Hier sind die wichtigsten Lebensbereiche, in denen Teilhabedefizite festgestellt werden können:

    LebensbereichBeispiele für Teilhabedefizite bei psychischen Erkrankungen🏠 Alltagsbewältigung & SelbstversorgungProbleme, Tagesstruktur zu halten, Körperpflege oder Ernährung zu vernachlässigen, Wohnung unordentlich oder verwahrlost💬 Kommunikation & soziale KontakteRückzug, Misstrauen, Angst vor Menschen, keine oder belastete Beziehungen, Konflikte im sozialen Umfeld🧠 Kognitive & emotionale SteuerungEingeschränkte Konzentration, fehlende Belastbarkeit, Stimmungsschwankungen, Realitätsverlust💼 Arbeit & BeschäftigungNicht in der Lage, regelmäßig zu arbeiten, Ausbildungsabbrüche, Arbeitsplatzverlust durch Krankheit🚶 Mobilität & OrientierungAngst, das Haus zu verlassen; Überforderung mit Bus, Bahn oder Behördenwegen🏛️ Gestaltung des eigenen Lebens / Teilhabe am gesellschaftlichen LebenSchwierigkeiten, Freizeit zu gestalten, Hobbys auszuüben, an Gruppen oder Vereinen teilzunehmen👨‍👩‍👧 Familie & PartnerschaftÜberforderung in Elternrolle, Abhängigkeiten in Beziehungen, Isolation

    📏 Wann gilt ein Teilhabedefizit als „wesentlich“?

    Die Eingliederungshilfe wird nur gewährt, wenn die Beeinträchtigung der Teilhabe wesentlich ist.
    Das bedeutet laut Gesetz (§ 99 SGB IX):

    Eine Person ist wesentlich in ihrer Teilhabe beeinträchtigt, wenn sie ohne die Hilfe auf Dauer nicht in der Lage wäre, in zentralen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Menschen zu leben.

    Beispiele:

    • Eine Patientin mit einer schweren Depression verlässt über Wochen kaum das Haus, vernachlässigt die Körperpflege, kann Termine nicht wahrnehmen.

    • Ein Patient mit Schizophrenie ist durch Misstrauen und Realitätsverzerrungen sozial isoliert und nicht fähig, seine Angelegenheiten selbst zu regeln.

    • Eine Person mit Borderline-Störung kann trotz Therapie Alltagsentscheidungen kaum treffen, gerät immer wieder in Krisen, die ein selbstständiges Leben verhindern.

    Das sind klassische Teilhabedefizite in mehreren Lebensbereichen.

    📄 In der Praxis

    Bei der Bedarfsermittlung (z. B. mit BEI_NRW, B.E.Ni, ITP, Metzler oder Niedersachsen-ITP) werden diese Defizite systematisch erhoben.
    Die Fachkraft beschreibt dort:

    • Welche Lebensbereiche betroffen sind

    • Wie stark (leicht, mittel, schwer)

    • Wie lange die Einschränkungen voraussichtlich bestehen

    • Welche Unterstützung notwendig ist, um Teilhabe zu ermöglichen

    💬 Merksatz für Stellungnahmen

    Ein Teilhabedefizit liegt dann vor, wenn eine psychische Erkrankung dazu führt, dass die Person ohne Unterstützung ihre Lebensführung, sozialen Beziehungen oder gesellschaftliche Teilhabe nicht selbstständig aufrechterhalten kann.

 
Checkliste Antragstellung

Notfall-Hinweis

⚠️ Bei akuter Suizidgefahr:
Notruf 112 oder Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 (kostenlos, rund um die Uhr)